Jan Stolín beschäftigt sich parallel zu dreidimensionalen Objekten und Lichtinstallationen mit Pastellzeichnungen, die unlängst in Einzelausstellungen in der Galerie der Mittelböhmischen Region (2021), in der Ambrosiuskirche in Hradec Králové (2022) und in der Städtischen Galerie in Pilsen (2022) zu sehen waren. Nach einer längeren Pause kehrte er zur Technik zurück, der er sich während seines Studiums an der Kunstgewerbehochschule in Prag zuwandte. Er entwickelte sie konsequent in letzten Jahren in einem umfangreichen Ensemble, das einen integralen Bestandteil seiner jetzigen Arbeit bildet.
Ähnlich wie in seinen räumlichen Realisierungen dienten ihm geometrische Grundmuster als Ausgangsbasis. Sie befanden sich in der Mitte der Fläche, durchdrangen sie von Seiten, neigten sich, brachen hinaus und wurden zu Trägern dramatischer Aktion. In ihre scheinbar unveränderbare, stabile Form kam Bewegung. Stolín befreite die Muster von der Gravitation, lockerte ihre undurchdringliche Geschlossenheit auf, öffnete ihren inneren Raum und durchbrach ihre festen Kanten, befreite sie von ihrer gewohnten Vorbestimmung. Er erfüllte sie mit ausgeprägter Sensibilität und zeigte, dass sich unter ihrer Oberfläche emotionale Schichten befinden und dass sie inneres Leben durchdringt. Dunkle Rechtecke, Kreise und Fünfecke wurden ihm zu einer Quelle von Reflexionen über das Bestehende und das Vergängliche. Er stellte sie in einem Zustand eines Übergangs dar, wo sie ihre Form annehmen und verlieren, wo sie zur Form werden. Sie sind und nicht sind sie selbst. Sie lösen sich scharf von einer leeren Fläche, sie grenzen sich gegen sie ab, welche ein vollwertiger, aktiver Teil der Zeichnung ist, nicht bloß ein passiver Hintergrund. Sie werden zu geometrisierten Körpern, von welchen jeder ein eigenes Pneuma hat. Ihre vermeintlich ewige Beständigkeit wird durch flüchtige psychische Bewegung durchzogen.
In fragiler, oft nur leichter Verwischung ihrer scharfen Kontur sind Räumlichkeit und Zeitlichkeit eng miteinander verwoben, sie sind getrennte, widersprüchliche Zustände, deren Überschneidung das Nachdenken des Künstlers über den Sinn der Welt an der Grenze zwischen Angst und Melancholie sichtbar macht. Die Verbindung zwischen Form und deren Umgebung, die durch einen losen Rand sichtbar wird und im umgebenden Raum wie Rauch verschwindet, der gelegentlich aus den Objekten Stolíns aufsteigt, bringt die Spannung nahe, welche bestrebt ist, aus dem vorgegebenen kartesianischen System genereller Koordinaten auszubrechen. Die Pastellzeichnungen sind Quelle einzigartiger Individuation, einer Brechung, welche physische Zustände von Spaltung sowie breite Palette von Klangeindrücken hervorruft, die von sanftem Knistern bis zu kreischendem Klappern reichen. Es durchdringt sie unhörbare Musik von Sphären, welche manchmal Form von Glanz hat, der sich innerhalb eines gleichförmigen, monochromen schwarzen Feldes wie ein horizontaler Schlitz ausbreitet, oder umgekehrt, einen verführerischen Horizont aufschneidet. Obwohl Stolín seine Pastelle nicht beschriftet, könnte jedes von ihnen einen eigenen Titel, einen eigenen Namen haben. Man kann an sie wie an lebende Wesen herantreten, wie sie in einer bestimmten Phase ihres Wachstums dargestellt sind. Sie repräsentieren Positionen einer entstehenden und unter-gehenden Welt. Es kommt darauf an, welchen Standpunkt wir zu ihnen einnehmen.